Bei den meisten ist angekommen, dass Minimalismus nicht unbedingt die Matratze auf dem kahlen Boden neben einer einsamen Kleiderstange heißen muss. Man weiß, was ein Capsule Wardrobe ist, auch wenn der eigene Kleiderschrank nach wie vor aus allen Nähten platzt. Eltern überlegen, wie sich Minimalismus im Kinderzimmer umsetzen lässt, und Pinterest oder Instagram sind voll davon. Minimalismus ist nachhaltig, oft günstiger und außerdem im Trend.
Doch jetzt lade ich dich zu einem kurzen Experiment ein. Schließe die Augen und denke an eine minimalistisch eingerichtete Wohnung oder einen für dich typisch minimalistischen Modestil. Dann öffne die Augen wieder. Was für eine Farbpalette hast du dir vorgestellt?
Wenn du das Schlagwort Minimalismus bei Pinterest oder auch nur in eine einfache Bildersuche eingibst, erhältst du jede Menge Ergebnisse. Die irgendwie alle ähnlich aussehen. Das liegt einerseits natürlich daran, dass der Minimalismus auf klare, schlichte Linien setzt – Räume bleiben weitgehend leer (soweit das eben möglich ist), Kleidung ist einfarbig und meist eher klassisch-modern geschnitten. Doch nicht nur die Einrichtung und Stilvariation ist reduziert, auch die Farbpalette ist meistens dieselbe. Minimalismus passiert fast ausschließlich in gedeckten Farben wie Weiß, Grau, Schwarz, Marine und Beigetönen. Nichtfarben nennt man das in der Farblehre. Ab und zu verirrt sich mal ein pudriges Rosa, ein senfiges Gelb oder ein rauchiges Grün in die Palette, aber Minimalismus ist visuell meistens alles andere als farbenfroh.
Natürlich gibt es Gründe für diese Farbpalette. Nichtfarben sind angenehm für das Auge und sorgen dafür, dass das Gehirn ausgeglichener arbeitet, insgesamt fällt es einem also leichter, sich zu konzentrieren. Das Auge, und damit das Gehirn, finden schlicht weniger Ablenkung.
Eine Ton-in-Ton Palette oder eine, die aus neutralen Farben besteht, nimmt einem auch Entscheidungen ab und spart damit neben Geld vor allem Zeit und langes Überlegen. Das erhöht die Lebensqualität, ein wichtiger Faktor in der Entscheidung für gelebten Minimalismus im Alltag. Je weniger farbliche Varietät die Wohnung oder sogar der Kleiderschrank haben, desto einfacher ist es, verschiedene Teile miteinander zu kombinieren. Selbst wenn man nicht auf monochrom steht, lassen sich neutrale Farben gut nebeneinanderstellen oder miteinander tragen. Und je weniger Farben man zur Auswahl hat, desto weniger muss man darüber nachdenken, ob man sich heute eher nach Kirschrot oder Apfelgrün fühlt. Mit einem monochromen Capsule Wardrobe kann man sich schlimmstenfalls sogar im Dunkeln ankleiden, es passt eh alles zusammen.
Ich behaupte: Minimalismus darf auch farbenfroh sein. Farbpsychologie ist ein spannendes Feld und wir wissen, dass Farben unsere Laune, Emotionen und sogar unser Verhalten beeinflussen. Ich habe Lieblingsfarben und mag andere Farben gar nicht, wie wahrscheinlich jede*r von uns. Und an manchen Tagen hilft es mir, ein Teil in meiner Lieblingsfarbe zu tragen, oder schlicht in einer knalligen Farbe, die in einer minimalistischen Farbpalette normalerweise nichts zu suchen hat. Das Teil kann ich dann vielleicht nicht mit absolut jedem anderen Teil meiner Garderobe kombinieren. Vielleicht ist es aber auch völlig in Ordnung, ein paar Einzelstücke zu besitzen, die als Farbtupfer etwas tristere Outfits aufpeppen oder in einem sonst zurückhaltenden Look einen Akzent setzen. Sind wir mal ehrlich, wer von uns hat wirklich einen Capsule Wardrobe, in dem absolut jedes Teil mit jedem anderen kombinierbar ist?
Natürlich bleibt für mich wichtig, dass jedes Teil mehrfach Verwendung finden kann, ob das nun etwas ist, was ich privat besitze, oder eins meiner Produkte. Aber ich finde auch wichtig, dass Vielfalt erhalten bleibt. Dass man sprichwörtlich ‚Farbe zeigen‘ darf, wenn einem danach ist. Egal, ob das in der Wohnung, im Kleidungsstil oder im sonstigen Leben ist. Auch das erhöht die Lebensqualität. Und Farbe ist nun mal ein großartiges Mittel für gute Laune.